"Venu Dresdenon! Koran bonvenon!" "Kommt nach Dresden! Herzlich willkommen!"
So waren im letzten Jahr die Postkarten durch die ganze Welt geflattert, um die Esperantisten zum vierten internationalen Kongreß einzuladen. Und sie hatten ihren Zweck nicht verfehlt:
Über 1500 Teilnehmer waren erschienen aus aller Herren Länder, aus Nord- und Südamerika, Afrika, Australien, Japan usw.. Alle redeten eine Sprache, ihr geliebtes Esperanto war das Band, das alle vereinigt. Welch ein Sprachengewirr wäre es gewesen, hätten die Anwesenden in den 42 Sprachen geredet, die sie vertraten! Wahrlich, die Welthilfssprache hat wieder ihre Brauchbarkeit aufs glänzenste bewiesen und gezeigt, daß ein Unterschied in der Aussprache bei den verschiedenen Nationen nicht besteht.
Als im letzten Jahr in Cambridge die "Deutsche Esperanto-Gesellschaft" sich dazu entschloß, den nächsten Kongreß nach Deutschland einzuladen, fürchteten die dort anwesenden Deutschen doch etwas, daß die Bewegung in ihrem Vaterland noch nicht weit genug vorgeschritten sein möchte, und daß deshalb der vierte Kongreß keine Steigerung mehr bringen würde. Aber alles, was im Laufe des Jahres über die Vorbereitungen laut wurde, war dazu angetan, die Bedenken zu zerstreuen, und jetzt, nach den Kongresstagen, steht es fest, die Befürchtungen waren unbegründet, es war ein großer Erfolg.
Nicht nur die städtischen, sondern auch die staatlichen Behörden verfolgten die Verhandlungen mit großem Interesse, was sich gleich im Anfang bei der feierlichen Begrüßung Dr. Zamenhofs, des Schöpfers der Sprache, in der Aula der Technischen Hochschule zeigte, wo unter anderen zugegen waren: Kammerherr von Criegern als Vertreter des Protektors, seiner Majestät des Königs Friedrich August von Sachsen, Geheimer Schulrat Professor Lange als Vertreter der Ministerien, Oberbürgermeister Geheimer Finanzrat Beutler als Vertreter der Stadt. Bei der darauf stattfindenden Eröffnungsfeier im großen Vereinssaal, der mit den Flaggen der zahlreichen in Dresden durch den Konsul vertretenen Nationen geschmückt war, begrüßte Geheimer Schulrat Lange die Versammlung im Namen der Regierung und das Ministeriums des Kultus und des öffentlichen Unterrichts. An Schillers Wort: "Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen" anknüpfend, führte er aus, daß die Sprache das schönste Gut der Menschen sei, daß aber die Mannigfaltigkeit der Sprache wie ein Fluch auf der Menschheit laste. Er wünsche von ganzem Herzen, daß sich das Werk der Esperantisten weiter entwickeln möge, denn wenn sich die Völker erst äußerlich verstehen, werden sie sich auch innerlich bald näher kommen und sich schließlich als Werkzeug des einen großen Schöpfers fühlen. Im Anschluß daran ergriff Oberbürgermeister Beutler das Wort zur Begrüßung im Namen der Stadt. Er betonte, daß gerade in Dresden, einem Mittelpunkt internationalen Verkehrs, dem Esperanto viel Verständnis entgegen gebracht würde. Die Arbeit, eine Weltsprache einzuführen, sei des Schweißes der Edlen wert und eines der schönsten Ziele, das die Menschheit haben könne. Nach diesen mit großem Jubel aufgenommenen Ansprachen hielt Dr. Zamenhof seine offizielle Rede, in der er zunächst dem Staat und der Stadt, vor allem auch dem König von Sachsen, dankte. Die Übernahme des Protektorats durch den König könne als ein Zeichen dafür gedeutet werden, daß sich die Zeit nähere, in der Esperanto nicht mehr Privatsache, sondern Gemeingut aller Völker sei. Zur Erreichung dieses hohen Zieles sei aber vor allem Einigkeit nötig. Der Redner betonte u. a. noch, daß zwei der ersten Vorkämpfer Deutsche gewesen seien, daß deshalb gerade Deutschland Grund habe, sich der Sprache weiterhin anzunehmen. Nachdem dich der stürmische Beifall der Zuhörerschaft gelegt hatte, folgten die Ansprachen der Delegierten der verschiedenen Länder. Diese Begrüßung gestaltet sich immer sehr interessant, sie zeigt besonders klar, daß alle Völker das Esperanto ganz gleich aussprechen, was bekanntlich von Nichtesperantisten stets bezweifelt wird. Offizielle Vertreter hatten Japan, die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, Brasilien, Spanien, das Rote Kreuz und die Pazifisten entsandt.
Die mühelose Verständigung bewährte sich bei allen folgenden Verhandlungen auf den verschiedenen Gebieten. In den offiziellen Sitzungen wurde über weitere Maßnahmen zur Ausbreitung der Sprache, über die Erteilung von Fähigkeitsattesten zur Ausübung des Lehrberufes usw. gesprochen, sowie das Land für den nächsten Kongreß bestimmt. Da die Anhängerzahl immer höher wird, wurde beschlossen, im kommenden Jahr zwei Kongresse abzuhalten, einen in Chautanqua bei New York, den anderen in Spanien: Für das Jahr 1910 wurde eine Einladung nach Antwerpen und für 1912 eine solche der japanischen Regierung vorgemerkt.
Außer den Hauptsitzungen fanden viele sogenannte Fachsitzungen statt, es hielten solche z. B. die Deutsche Esperanto-Gesellschaft, die Internationale Gesellschaft der Wissenschaften, das Rote Kreuz, die Theologen, Antialkoholiker, Freidenker, Katholiken, Stenographen, Polizisten, Journalisten, Kaufleute, Juristen, Ärzte, Apotheker, Freimaurer, Lehrer usw., und alle diese Sondersitzungen legten davon Zeugnis ab, daß Esperanto in alle Kreise mit gleichem Erfolge eingedrungen ist.
Neben der Arbeit verstehen sich Esperantisten indessen auch Feste zu feiern, und es ist etwas Eigenes um diese Feste. Keiner fühlt sich dem anderen gegenüber fremd, alle bilden gleichsam eine große Familie, die zum Familientag zusammengekommen ist. Jedes Jahr findet der Besucher liebe alte Bekannte wieder und gewinnt neue dazu. Nach den zwanglosen Zusammenkünften am Sonnabend und Sonntagabend gab es am Montag ein Gartenfest in der Ausstellung: Draußen im Garten Militärkonzert Feuerwerk und im Saal Konzert und Deklamationen. In den acht Tagen haben die Ausländer viel vom Besten unserer deutschen Musik gehört und sie hoffentlich schätzen gelernt. Am Dienstag besuchten sie Kongressteilnehmer Dresdens Nachbarstadt Meißen. Allen, die diese Stunden mit zu erleben die Freude hatten, werden sie für immer unvergesslich bleiben. Unter Böllerschüssen landeten die buntbewimpelten Esperantistendampfer an dem reich beflaggten Ufer unterhalb der Stadt. Wie ein Fürst wurde Dr. Zamenhof empfangen. Fanfaren erklangen vom blumengeschmückten Rathausaltan, auf dem in Vertretung des Bürgermeisters alsbald Stadtrat Müller mit Dr. Zamenhof und dessen Getreuen erschien. Er begrüßte die Journalisten mit warmen Worten, worauf Dr. Mybs, der Vorsitzende der Deutschen Esperanto-Gesellschaft, der Stadt Meißen den Dank des Kongresses aussprach. Nachdem noch die Stadt ihren Gästen einen Ehrentrunk gereicht hatte, ging der eine Teil zur altberühmten Porzellanfabrik, der andere zur schön restaurierten Albrechtsburg hinauf. Als beide besichtigt waren, fand im Dom ein Konzert statt und darauf in der Geipelburg ein gemütliches Beisammensein, bei dem ein Einakter von Angehörigen 11 verschiedener Nationen aufgeführt wurde. Ebenso wie das bereits am Sonnabend von Mitgliedern der Dresdner Gruppe gespielte "Tie ĉi oni parolas esperanton" war es sehr gut vorbereitet und das Zusammenspiel vorzüglich. Trotzdem jeder seine Rolle in einem anderen Land, weit entfernt von den anderen, gelernt hatte und nur wenige Proben stattfinden konnten, war alles wie aus einem Guß. In langem Zuge ging es endlich zum Bahnhof. Als man die große Elbbrücke überschritt, leuchteten plötzlich die Albrechtsburg und noch einige besonders schöne Punkte in rotem Feuer aus dem Dunkel hervor. Die vorher gar nicht zu beruhigende Menge war so still, daß das Plätschern der Elbe aufklang. Durch die weihevolle Stille tönte Werners Lied: "Behüt dich Gott" herüber. Es lag wie ein Bann über all den vielen Menschen, niemand wagte zu sprechen ... Aber die Eisenbahn wartete nicht, und so hieß es Abschied nehmen von dem schönen, gastlichen Meißen, das seinem alten, guten Ruf wieder einmal Ehre gemacht hatte.
Der Höhepunkt der ganzen Tagung aber war die Aufführung der Goetheschen Iphigenie (in der Übersetzung Zamenhofs) im Königl. Opernhaus. Emanuel Reicher hatte sie auf das Sorgfältigste vorbereitet. Diese erste Aufführung eines Meisterwerks in Esperanto hat dargetan, daß dem Esperanto künftig auch in der Literatur ein Heimatrecht zuerkannt werden muß, und ferner, daß es auf dem Gebiet der Schauspielkunst einen großen Fortschritt zu bewirken geeignet ist. Die Schauspielkunst ist die einzige Kunst, die nicht ohne weiteres von allen Völkern verstanden werden kann, die, weil an die Sprache gebunden, nicht international ist. Wie wertvoll wäre es, wenn die literarischen Meisterwerke aller Völker durch die Übersetzung in eine Welthilfssprache allen Gebildeten zugänglich gemacht würde! Selbstverständlich will das Esperanto wie im alltäglichen Verkehr so auch in der Literatur nicht die lebende Sprache ersetzen; denn jedes Volk wird sich auch dann nicht die Aufführung seiner Meisterdramen seine eigene Sprache nehmen lassen. Daß eine solche Übertragung aber wünschenswert, ja notwendig ist, bewieß der Eindruck der Iphigenie auf die Tausende aus aller Herren Länder, die alle unserem Goethe mit vollem Verständnis lauschten, während mehr als 40 Übersetzungen nötig gewesen wären, wenn jeder das Stück in seiner Muttersprache hätte hören wollen.
Der Donnerstag war einem Ausflug in die Sächsische Schweiz vorbehalten. Die Bastei mit den schroffen Felsengruppen konnte den fremden Gästen wohl ein Bild von der eigenartigen Schönheit des Elbsandsteingebirges geben. Auf dem Rückweg wurde in Wehlen das historische Marktfest abgehalten. Hier wiederholte sich eine ähnliche Begrüßungsszene wie in Meißen, nur mit dem Unterschied, daß der Bürgermeister seine Ansprache auf dem Rathausaltan in Esperanto hielt. Bei der Rückfahrt begrüßte die Bevölkerung auf beiden Seiten der Elbe die im Dunkel dahin ziehenden Schiffe mit Böllerschüssen und Feuerwerk, an mehreren Stellen, z. B. am Sonnenstein bei Pirna, erschienen interessante Schattenspiele an den hohen Mauern. Allzu schnell fand auch diese schöne Fahrt ein Ende.
Zur Tradition geworden ist während des Kongresses die Abhaltung eines Balles in Nationalkostümen. Durch diese vielen verschiedenen Trachten sollen die Idee, daß die Sprache alle Völker eint, so recht deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Nach dem Konzert von berühmten Mitgliedern der Hofoper zeigte sich dann auch ein buntes Bild, Schweden, Spanien, Ungarn, Türken, Holland usw. belebten es.
Am anderen Morgen fand dann die offizielle Schlusssitzung statt. Nach dem Gesang der Esperantohymne erscholl es minutenlang immer wieder; "Viva Esperanto, viva Zamenhof, ĝis la revido!" und dieser Ruf "ĝis la revido" (Auf Wiedersehen!) war auch der Abschiedsruf in Berlin, wohin mehrere Hundert der Dresdner Kongressteilnehmer noch gefahren waren, um auch die deutsche Reichshauptstadt kennenzulernen und mit den dortigen Freunden einige anregende Tage zu verbringen.
Es bleibt nur noch übrig, die drei Gottesdienste zu erwähnen, die auch in Esperanto abgehalten und durch musikalische Darbietungen verschönt wurden, die bei allen Anwesenden einen tiefen Eindruck hinterließen.
Die Ausstellung enthielt ziemlich alles, was seit 1887 in und über Esperanto erschienen ist, und umfasste viele hundert Bände, Broschüren, Zeitungen, Noten usw..
Worin besteht nun der Wert der Esperanto-Kongresse? Zunächst haben sie einen gewissen sozialen Wert. Der Mensch kommt dem Menschen näher; erfährt schon der eine durch den Verkehr mit einem anderen, von dem ihm sonst große Entfernungen trennen, persönlich eine Bereicherung, so kommen sich zugleich auch die verschiedenen Nationen näher, - in unserer Zeit, in der soviel von der Erhaltung des Völkerfriedens die Rede ist, gewiß ein nicht zu unterschätzender Faktor. Vor allem aber natürlich liegt der Wert der Kongresse in der Förderung des Esperanto selbst und seiner Ausbreitung.
Alles in allem: Es war wieder eine schöne Zeit, die "große Woche" der Esperantisten. Sie hat hoffentlich nachhaltigen Erfolg, so daß die Sprache nun auch in Deutschland rasch große Fortschritte machen und unser Vaterland bald neben England und Frankreich an der Spitze der Bewegung steht.
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Kunstgenossen, die sich für Esperanto interessieren, können durch den Leiter des neu gegründeten "Sächsisches Esperanto-Institut" in Dresden, Herrn Assesor Dr. Schramm, Dresden - Ständehaus, gegen Einsendung von 50 Pfennig aufklärende Schriften über Esperanto, seine Verbreitung und Entwicklung, sowie den letzten Kongreß erhalten.
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